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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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03.07.2009
 

Substantivierungen
Was sind echte Substantive?

Die Groß- und Kleinschreibung hat sich meiner Ansicht nach im Laufe der Geschichte von der engen Bindung an die Wortarten gelöst und kann daher nicht mehr zutreffend als Substantivgroßschreibung charakterisiert werden.
Neben der textsemantischen Begründung, die ich oft genug dargestellt habe, gibt es auch grammatische Bedenken. So sind die substantivierten Adjektive (und Partizipien natürlich) zwar in gewisser Hinsicht Substantive und Kerne von Substantivgruppen, aber eben doch nicht in jeder Hinsicht. Nehmen wir die Hinzufügbarkeit von Adverbien: die hier Beschäftigten, das damals Übliche. Das ist mit »echten« Substantiven nicht möglich: *die hier Leute, die damals Ereignisse. Hier muß man die Adverbien nachstellen oder vor den Artikel ziehen. Es ist, als wenn die Substantivierungen den verbalen Charakter (»beschäftigt sein, üblich sein«) noch bewahrt hätten.



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Kommentare zu »Substantivierungen«
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Kommentar von rrbth, verfaßt am 03.07.2009 um 20.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14725

Es ist, als wenn die Substantivierungen den verbalen Charakter (»beschäftigt sein, üblich sein«) noch bewahrt hätten.

Klar doch:

die hier beschäftigten Menschen
das damals übliche Verfahren
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.07.2009 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14737

Ähnliches kann man über Adverbien oder Adjektive auf -weise sagen, auch sie können nur vor Substantivierungen stehen.
Man kann etwas teilweise akzeptieren, also könnte man wohl auch von teilweiser Akzeptanz sprechen (?).
Aber es gibt im Winter keine teilweise Eisglätte, obwohl es durchaus im Winter teilweise Eisglätte geben könnte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.07.2009 um 19.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14738

Wie rrbth wohl andeuten will: nur vor Adjektiven, die auch prädikativ möglich sind, daher gewissermaßen die Kopula in sich enthalten. So hatte ich es auch gemeint.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.07.2009 um 22.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14739

Ja, da habe ich wohl die Frage nach den "echten Substantiven" zu allgemein aufgefaßt. Ich hoffe, daß ich dann hier nicht zu weit vom Thema abschweife, aber interessant fände ich das folgende schon.

Beispielsweise bin ich wegen der teilweisen Eisglätte doch etwas im Zweifel. Es kann ja im Winter teilweise glatt sein, wäre also eine teilweise Glätte als Substantivierung nicht doch denkbar? Oder geht höchstens das teilweise Glatte?

die Kürze – das Kurze
die Länge – das Lange
die Weite – das Weite
die Glätte – das Glatte

Stimmt es, daß links jeweils das "echte" Substantiv steht, und rechts "nur" eine Substantivierung? Oder handelt es sich links und rechts um verschiedene Grade von Substantivierungen?
Man schreibt ja z.B. "in Kürze" aber "in kurzem", ist also die Kürze das doch etwas echtere Substantiv von beiden?

Oder, um beim Beispiel "beschäftigt sein" zu bleiben:
Es gibt ja verschiedene Arten der Substantivierung (nicht nur von Adverbien/Adjektiven): das Beschäftigen, die Beschäftigung, der Beschäftigte, ... Sicher haben nicht alle diese Substantivierungen ganz die gleichen Eigenschaften, wie man oben durch versuchsweises Hinzufügen von "hier" sieht. Entsteht also durch Substantivierung nicht unbedingt ein (vollwertiges) Substantiv, oder gibt verschiedene Grade von Substantivierung?

Ab welchem Grad schreibt man groß?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.07.2009 um 11.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14740

Ja, das Kurze ist nur syntaktisch konvertiert, und die Flexion bleibt so, als ob dahinter noch ein Substantiv stünde, so daß manche Autoren es gar nicht zur Wortbildung zählen. Dagegen ist die Kürze eine echte Abstraktbildung mit dem früher i-haltigen, daher umlautenden Suffix e.
 
 

Kommentar von Menk Sweidenberg, verfaßt am 07.07.2009 um 11.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14741

Und wie ist es zu verstehen, daß ›seit langem‹ und ›vor kurzem‹ seit der Reform manchmal (wenngleich nicht immer) groß geschrieben werden: seit Langem bzw. vor Kurzem??

Ist das eine neue Form der Substantivierung oder eine Fehlinterpretation der Reformregeln oder etwas anderes, das sich meinem unmittelbaren Zugriff entzieht?
Mir fällt keine Begründung ein, weshalb man hier groß schreiben sollte.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.07.2009 um 11.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14742

Was seit bzw. aufgrund der Reform geschrieben wird, kann man ja meist überhaupt nicht mehr verstehen. Bei der neuen Großschreibung solcher adverbialer Wendungen wie seit langem oder vor kurzem nehme ich an, daß die Reformschreiber auf den darin enthaltenen Artikel abfahren (seit dem langen, vor dem kurzen), und daß sie deshalb wegen der durch die Reform entstandenen falschen Faustregel "Wo ein Artikel davorsteht, das ist ein Substantiv" teils reformgemäß, teils fälschlich, einfach immer groß schreiben.

Ich sehe es wie folgt: In Kürze kann man nur groß schreiben, weil es die Kürze eben nur als Substantiv gibt. Aber bei vor kurzem hat man zunächst die Auswahl zwischen Substantiv[ierung] (das Kurze) und Adjektiv (das kurze ...). Ich sehe in diesen adverbialen Wendungen aber gar keine Substantivierung, denn es geht ja nicht um einen (abstrakten) Gegenstand, das Kurze, vor dessen Existenz etwas geschah, sondern es bedeutet einfach dasselbe wie kürzlich.

Ich habe aber bei dieser Begründung, mit der ich sonst für mich ganz gut auskomme, ein Problem mit der Schreibung "in bezug auf". Warum schreibt man (ich meine damit immer undeformierte Rechtschreibung) bezug klein? Ist der Bezug nicht ein ebenso "echtes" und eindeutiges Substantiv wie die Kürze oder wie der Schaufelradbagger, die man niemals klein schreiben kann?!
Sicher, man schreibt verblaßte, ehemalige Substantive klein (ich stehe kopf), so würde ich auch bezugnehmen, ich nehme bezug verstehen, aber bei in bezug auf handelt es sich doch um etwas anderes?
Wenn in bezug auf richtig ist, dann müßte man auch in kürze akzeptieren, oder?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2009 um 16.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14744

Die Großschreibung bei vor kurzem usw. war 1996 noch nicht vorgesehen, wurde aber schon von einigen Reformern favorisiert und schließlich von Peter Gallmann 2004 als fakultative Schreibweise durchgesetzt, weil er den Sinn der deutschen GKS nicht verstanden hatte (und bis heute nicht verstanden hat). Sie wird auf die Dauer keinen Bestand haben, aus demselben Grunde.

Die Kleinschreibung bei in bezug stammt meines Wissens aus der Amtssprache und ist vom Duden vor langer Zeit verabsolutiert worden, auch wenn sie in der Schreibwirklichkeit nie einheitlich befolgt wurde. In meinem empirisch erarbeiteten Rechtschreibwörterbuch ist die Kleinschreibung neben der Großschreibung verzeichnet. Mit grammatischer Argumentation läßt sich hier leider gar nichts entscheiden. Die alte Dudenweisheit "in bezug auf, aber mit Bezug auf" war eine jener hassenswerten Schikanen, die den Reformern sehr gelegen kamen. Man sah ja auf den ersten Blick, daß die Unterscheidung weder der üblichen Schreibweise entsprach noch funktional irgendeinen Gewinn mit sich brachte.
 
 

Kommentar von Christian Dörner, verfaßt am 08.07.2009 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14745

In der aktuellen Auflage des Schweizer Schülerdudens geht Gallmann sogar noch weiter und schreibt im Regelteil:

»Beachte: Adjektive mit einem Nachmorphem (einer Endung), die wie Nomen gebraucht werden, schreibt man nach der Grundregel D13 gross:

vom Besten, aufs Schönste, ins Schwarze treffen, auf dem Laufenden sein, von Neuem, seit Langem, ohne Weiteres, vor Längerem«

Und auch im Wörterverzeichnis werden ausschließlich die reformierten Schreibweisen (vor Kurzem usw.) angeführt, und die Kleinschreibung wird unterschlagen.

Auch Schreibungen wie kennenlernen, sitzenbleiben usw. werden vom Gallmannschen Regelwerk ausdrücklich ausgeschlossen und sind folgerichtig nicht im Wörterverzeichnis zu finden.

In der deutschen Ausgabe des Schülerdudens hat die Dudenredaktion zwar Gallmanns Regelwerk vollständig übernommen, dieses aber an den entscheidenden Stellen leicht umformuliert, und im Wörterverzeichnis sind alle von der Ratsorthographie 2006 zugelassenen Schreibungen angeführt (wenn auch mit den mißratenen Duden-Empfehlungen).

Der Auszug aus der obenerwähnten Gallmannschen Regel D19 zur Groß- und Kleinschreibung lautet im deutschen Schülerduden dann so:

»Beachte: Feste Wendungen mit Adjektiven (Eigenschaftswörtern), die auf -em, -es enden, kann man auch als Nomen (Substantive, Hauptwörter) auffassen und großschreiben:

binnen kurzem oder Kurzem, vor kurzem oder Kurzem, [...]«
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2009 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#14746

So ist es (vgl. auch hier), und es wird immer ein Rätsel bleiben, wieso die ganze Schweiz unter die Herrschaft von Gallmann geraten konnte, der ja offensichtlich ganz rückständige Schreibweisen als letzten Schrei anbietet.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.11.2009 um 13.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#15310

Der ganz normale grammatische Wahnsinn (Morbus Gallmann):

Soweit man weiß, hat nur ein einziger Psychiater, der spätere Heidelberger Lehrstuhlinhaber Karl Willmanns, Hitler jemals von Nahem gesehen. Doch auch von Ferne hat noch kein ernst zu nehmender Psychiater Adolf Hitler Schuldunfähigkeit bescheinigt.

Der Psychotherapeut Manfred Lütz in dem ansonsten empfehlenswerten Bestseller:
Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.06.2012 um 08.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20844

Zur Zeit wird die Diskussion über die Substantivierung von Adjektiven und Partizipien samt orthographischen Konsequenzen im Diskusssionsforum weitergeführt, vor allem zwischen Herrn Achenbach und Herrn Riemer. Ich möchte daher auf die hier schon gemachten Bemerkungen (oder: das hier bereits Gesagt/gesagte) hinweisen.

Die feine Beobachtung von Herrn Achenbach, daß nichts nicht mit echten Substantiven verbunden werden kann, ist wohl darauf zurückzuführen, daß nach nichts eine definierende Qualifikation genannt werden muß, und echte Substantive gehen immer über das Qualifizieren hinaus; das ist eben Aufgabe der Adjektive. Vgl. auch die anderen Indefinita wie manches Gute, leider homonym mit manches Schwein.

Die bekannten Zweifel der Grammatiker an der Substantivierung stützen sich auf die Beibehaltung der adjektivischen Deklination (Ausnahmen wie das Gut, die Jungs bestätigen die Regel) samt Genusflexion. Gegen die elliptische Deutung spricht, daß das vermeintlich Ausgefallene (!) meist nicht wiederhergestellt werden kann, jedenfalls nicht ohne Willkür.

Die Folgerung, daß es sich um Substantivierung der ganzen Wortgruppe handele, würde zu unerträglichen Zusammenschreibungen führen, man denke an solche Sachen wie das von den Frauen der streikenden Arbeiter am Vortag Gebackene, das von den größten deutschen Schriftstellern für klassische Gehaltene.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.06.2012 um 23.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20848

Lieber Prof. Ickler,
ich habe mit der Substantivgroßschreibung so meine Verständnisprobleme und würde es gern einmal ganz klipp und klar machen. Zunächst finde ich, wenn man von Substantivgroßschreibung spricht, sollte alles, was damit nichts zu tun hat (Satzanfänge, Überschriften, Titel, Namen, Nominationsstereotype) außen vor bleiben, richtig?

Ich beziehe mich im folgenden auf den Satz:
Dies verstehe ich bei weitem noch nicht.
Für weitem sehe ich diese 3 Möglichkeiten:

1. Adjektiv weit, substantiviert das Weite, desubstantiviert als Adverbial bei weitem, somit als Nichtsubstantiv Kleinschreibung

2. Adjektiv weit, substantiviert das Weite, aber als Adverbial ein klein geschriebenes Substantiv in bei weitem

3. Adjektiv weit, somit Kleinschreibung bei weitem

Ich glaube, Sie lehren Punkt 2, richtig? Aber ist nicht die Erklärung 3. viel einfacher? Um auf etwas Komplizierteres zurückzugreifen, braucht man Gründe. Muß sich ein Adjektiv immer klar auf ein Substantiv beziehen? Kann nicht in Form eines Adverbials der genaue Bezug einfach im dunkeln bleiben? Kann man das nicht elliptisch deuten mit irgendeinem unbekannten Substantiv, welches ausgelassen wurde, weil es in diesem Adverbial einfach keine Rolle spielt? Muß die Auslassung denn unbedingt eindeutig wiederherstellbar sein?

Wenn man also der Auffassung 2. ist, dann habe ich hier schon mehrere Beispiele für klein zu schreibende Substantive gebraucht.
Gibt es aber auch groß zu schreibende Nichtsubstantive?
Dazu wüßte ich im Moment gar nichts außer z. B. die Nürnberger Einwohner, aber ist Nürnberger überhaupt ein Adjektiv? Ich glaube eher nicht, und selbst wenn, dann sollten Namen ja ausgeschlossen sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2012 um 08.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20849

Nein, ich lehre keineswegs Lösung 2! Das hat Horst H. Munske versucht, aber ich kann ihm hier nicht ganz folgen. Für mich ist nicht die Wortart entscheidend, sondern die textsemantische Rolle. Ich habe das sehr vorläufig und scheinbar oberflächlich immer so umschreiben: Wovon in einem Text die Rede ist ... Wenn man also sagt bei weitem – ist dann von einem "Weiten" die Rede? Sicher nicht.

Herrn Achenbach habe ich auch nicht unterstellen wollen, daß er für Zusammenschreibung der ganzen Wortgruppe plädiert. Wie ich die Kurzschließung von Wortart (Substantiv) und GKS ablehne, so auch die Kurzschließung von Wortgruppe/Wort und GZS.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.06.2012 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20851

Das verwirrt mich jetzt sehr. Genau diese Sichtweise – wovon im Text die Rede ist, nicht von einem Weiten, also kein Substantiv – hatte ich mir ja auch zu eigen gemacht. Dann haben wir also doch die ganz normale Kleinschreibung eines Nichtsubstantivs. Aber wo ist dann die von Ihnen behauptete Abweichung von der Substantivgroßschreibung?

Horst H. Munske beschreibt in "Lob der Rechtschreibung" folgende Gruppen von phraseologischen Adverbien:

a) Flektierte Adjektive mit Präposition: binnen kurzem, vor kurzem, ..., von weitem.
b) Adjektive im Genitiv mit Artikel: des langen und breiten, ..., des weiteren
c) Flektierte Adjektive nach im und aufs: im allgemeinen, ..., aufs geratewohl
d) Unflektierte Adjektive mit Präposition (auch in Paarformeln): gegen bar, von fern, ..., grau in grau

Da spricht er doch immer ausdrücklich von Adjektiven und nicht, wie es in meinem Punkt 2. heißt, von klein geschriebenen Substantiven.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2012 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20853

Nun, Munske hatte seinerzeit den Begriff der "phraseologischen Wortart" eingeführt, was ich aber aus naheliegenden Gründen problematisch finde.
Ich glaube, wie oft dargelegt, daß die stark oder ausschließlich an der Wortart orientierte "Substantivgroßschreibung" (die Munske ja zu retten versucht) in neuerer Zeit durch ein noch fortschrittlicheres Prinzip, eben das textsemantischs, gleichsam überbaut worden ist, wenn es auch noch keine befriedigenden Abschluß dieser Entwicklung gibt. Immerhin sind zu bedenken die vielen Großschreibungen von Nichtsubstantiven besonders in den Nominationsstereotypen (Schwarzes Brett usw.) und die Kleinschreibung von Substantiven, wie besprochen, besonders in adverbialen phraseologischen Wendungen und in Pronominalisierungen wie letzterer, einzelne. Die Leserfreundlichkeit ist, wie man leicht erkennt, mit dieser hochmodernen Entwicklung noch weitergetrieben, denn der Leser ist ja nicht an der Wortart einzelner Elemente, sondern am Sinn des Textes interessiert.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.06.2012 um 20.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20854

Ganz analog zur Substantivierung würde ich annehmen, daß durch Pronominalisierung Pronomen entstehen. Wenn wir nun solche Pronomen wie letzterer, einzelne klein schreiben, sehe ich das als Bestätigung, nicht als Widerspruch zur Substantivgroßschreibung.

Selbst wenn wir uns bei der Frage der Großschreibung eher an textsemantischen Merkmalen orientieren, bleibt doch anscheinend, sozusagen ganz unverhofft, die Substantivgroßschreibung erhalten. Vielleicht liegt es daran, daß aufgrund des moderneren Prinzips gleichzeitig auch Wortarten zumindest in den Randbereichen neu bestimmt werden?
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 08.06.2012 um 23.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20855

Lieber Herr Riemer,

wieso die Kleinschreibung gewisser Wörter die Großschreibung gewisser anderer Wörter "bestätigen" sollte, ist mir etwas schleierhaft. Das sollten Sie näher erklären.

Könnte es sein, daß Sie durch die Sprache irregeführt werden? Daß bestimmte sprachliche Erscheinungen konventionell "Substantivierung" oder "Pronominalisierung" genannt werden, heißt doch noch lange nicht, daß dabei waschechte Substantive oder Pronomen entstehen.

Prof. Ickler hat ja schon darauf hingewisen, daß etwa der Begriff der "Substantivierung" schon unter Fachleuten durchaus umstritten ist.

Entspricht überhaupt die Einteilung in bestimmte herkömmliche Wortarten einer tieferen sprachlichen Realität? Diese Einteilungen sind doch schon von den antiken Grammatikern entwickelt worden. Kann man sie so ohne weiteres der modernen deutschen Sprache überstülpen?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.06.2012 um 12.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20859

Lieber Herr Achenbach,
ich meine, daß das Wort Substantivgroßschreibung immer abkürzend für die Regel gebraucht wird, daß alle Substantive und nur Substantive groß geschrieben werden. (Satzanfang, Titel, Name, Überschrift gehören nicht zu diesem Thema. Nom.-Stereotype gehören entweder auch nicht dazu oder werden als komplette substantiv. Ausdrücke wie Substantive behandelt.) Diese Regel wird natürlich von jedem klein geschriebenen Nichtsubstantiv genau wie von jedem groß geschriebenen Substantiv bestätigt.
Um die Regel zu widerlegen, müßte man sagen, welche Nichtsubstantive groß oder welche Substantive klein geschrieben werden.

Ich will ja nicht störrisch auf meinem Standpunkt beharren, möchte auch wirklich niemanden belehren, sondern nur gern selbst das Problem richtig verstehen. Ich vermisse aber hier die nötige Klarheit.

Ich habe in 2. die Variante genannt, daß bei weitem ein klein geschriebenes Substantiv enthalte. Prof. Ickler sagt erst, er lehrt keineswegs 2., schließlich nennt er aber doch "die Kleinschreibung von Substantiven, wie besprochen, besonders in adverbialen phraseologischen Wendungen". Was denn nun?

Ob wir das Ding wie Herr Munske "phraseologisches Adverb" oder wie Prof. Ickler "adverbiale phraseologische Wendung" nennen, ist doch in diesem Zusammenhang völlig egal, wir sprechen doch über die Bestandteile! Herr Munske nennt sie Adjektive, Prof. Ickler sagt aber, Munske hätte sie als klein geschriebene Substantive (wie ich in 2.) zu deuten versucht. Wer kann das verstehen?

Ich hatte gehofft, wir würden im Zusammenhang mit der Substantivgroßschreibung die Nominationsstereotype außer acht lassen. Aber wenn es denn unbedingt sein muß: Nominationsstereotype sind m. E. feste, in ihrer Gesamtheit substantivische Ausdrücke. Sie bilden insgesamt eine Art Name oder Titel. Ich sehe auch hier keinen Widerspruch, sondern eine Bestätigung der Substantivgroßschreibung. Der Gesamtausdruck wird eben wie ein Substantiv behandelt und groß geschrieben. Man kann doch nicht ein groß geschriebenes Adjektiv am Anfang innerhalb eines solchen zusammengehörigen substantivischen Ausdrucks als Beispiel für ein groß geschriebenes Nichtsubstantiv im Sinne der Substantivgroßschreibung werten. Da kann man ja gleich sagen, am Satzanfang wird auch alles groß geschrieben und fertig.

Das Ergebnis einer Substantivierung, Desubstantivierung, Pronominalisierung ist für mich ein Substantiv, Nichtsubstantiv bzw. Pronomen, ebenso wie durch Halbierung die Hälfte oder durch Präfigierung ein Wort mit Präfix oder durch Betonierung Beton entsteht. Diese Substantive oder Pronomen haben m. E. alle Eigenschaften echter Substantive oder Pronomen. Sie behalten möglicherweise zusätzlich Eigenschaften der ursprünglichen Wortart, wie die Fähigkeit, ein Adverb voranzustellen, was aber m. E. keine Einschränkung der neuen Wortart bedeutet.

Wenn ich durch Pronominalisierung ein neues Wort erhalte, nenne ich es Pronomen und schreibe es klein, das ist schon alles.
Warum muß ich solche Verrenkungen machen zu behaupten, es sei zwar pronominalisiert, aber dennoch kein Pronomen, sondern immer noch ein Substantiv, allerdings ein klein geschriebenes? Man kann sich natürlich beliebig komplizierte Theorien ausdenken, aber wenn zwei Theorien das gleiche leisten, sollte man wohl bei der einfacheren bleiben.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.06.2012 um 18.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20863

Lieber Herr Riemer,

eine Nebenbemerkung:

Mich erstaunt, daß Munske "Geratewohl" als Adjektiv bezeichnet und "aufs geratewohl" schreibt, obwohl es schon im alten Duden "aufs Geratewohl" hieß.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.06.2012 um 20.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20864

Lieber Herr Achenbach,
Munske bezeichnet nicht Geratewohl, sondern geratewohl als Adjektiv.

In "Lob der Rechtschreibung" tritt Munske nicht nur sehr entschieden gegen die RSR auf, sondern kritisiert in einigen Fällen auch den alten Duden, in diesem Zusammenhang R65, wo es heißt, Adjektive und Partizipien könnten "durch einen Artikel der Form nach substantiviert" sein.
Munske: "... so als diene er [der Artikel] nur zur Kennzeichnung eines Substantivs oder einer Substantivierung, die aber hier ausnahmsweise außer Kraft gesetzt sei. Mit dieser unglücklichen Formulierung sollte offenbar gesagt werden, daß inhaltlich keine Substantivierung vorliege. Und so ist es auch."

Munske weiter:
"Und was ist das Geratewohl in der Wendung aufs Geratewohl? Hier soll offenbar einer «Substantivierung der Form nach» gefolgt werden, obwohl diesen Wörtern durch Großschreibung eine lexikalische Bedeutung unterschoben wird, die sie gar nicht haben. Denn sie kommen nur in diesen Wendungen vor."

Munske schreibt als Fußnote zu aufs geratewohl:
"Warum hier der alte Duden (1991) Großschreibung verlangte, ist wirklich unerfindlich, wo doch geratewohl ein ‹unikales› Element ist."
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.06.2012 um 22.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20865

Lieber Herr Reimer,

sind sie sicher, daß Munske geratewohl ausdrücklich als Adjektiv bezeichnet?

Hierzu das Grimmsche Wörterbuch:

geratewol, n. , selten m., aus falscher ableitung bisweilen geradewol geschrieben; es ist der zum substantiv gewordene imperativ gerat wol (s. DWB geraten 11, f), wie der krieger wol dem soeben geschleuderten speer, der spieler dem rollenden würfel zurief, ähnlich dem kegelschieber im Renner
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.06.2012 um 00.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20866

Einerseits ja, denn Munske führt aufs geratewohl als Beispiel in der Liste "c) Flektierte Adjektive nach im und aufs" an. Anderswo geht er nicht noch einmal auf die genaue Wortart ein.
Andererseits bezeichnet er es in der Fußnote als "‹unikales› Element".
Meiner Ansicht nach, so verstehe ich Munske (siehe die angeführten Zitate), ist die Wortart eigentlich unbestimmbar, weil es eben nur in dieser einen Wendung vorkommt. Sicher gibt er sich nur, daß es kein Substantiv ist. So nahm er es eben mit in die Liste der Adjektive auf, weil es das zumindest sein könnte und weil es als adverbialer Ausdruck in diese Liste paßt. Hier noch einmal vollständig:
"c) Flektierte Adjektive nach im und aufs: im allgemeinen, im besonderen, im einzelnen, nicht im entferntesten, im folgenden, im ganzen, im großen und ganzen, im kleinen, im nachhinein, im übrigen, im voraus, im weiteren, im wesentlichen; aufs neue, aufs geratewohl."

Bei nachhinein, voraus ist die genaue Wortart wohl ebenso unbestimmbar. (Den Voraus gibt es daneben als juristischen Fachbegriff, Herr Wagner fand ein Beispiel, siehe Diskussionsforum.)

Was der Grimm dazu sagt, na ja, das ist die Ansicht der Verfasser, die Wortarten mögen ja inzwischen auf modernere Art (textsemantisch?) beurteilt werden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.06.2012 um 01.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20867

Ich sehe gerade, daß im Grimm auch andere Beispiele stehen, die nicht nur die feste Wendung aufs Geratewohl betreffen. Aber alle diese Beispiele sind heute absolut ungebräuchlich. Da bin ich mir nicht sicher, inwiefern das für die heutige Sprache maßgebend ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2012 um 09.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20868

Hinter solchen Flüchtigkeitsfehlern, wie sie gerade beim allmählichen Zusammenstellen von Listen oft unterlaufen, braucht man wohl keinen tieferen Sinn zu suchen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.06.2012 um 16.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20871

Aus Zeitungen von heute (Fettmarkierungen von mir):

Der Nächste, bitte: Spanien (FAS, S. 1)

Der eine sieht die Sonne jeden Tag als Erster im Osten der Insel aufgehen. Der andere beobachtet im Westen als Letzter, wie sie im Meer versinkt.
Es ist ein großartiges Gefühl, ihn hier jeden Tag aufs Neue zu erleben
Er wiederholt den Namen drei Mal (FAS, S. V3)
(im gleichen Artikel auch: bis vor kurzem, die beiden, am liebsten)

Das Parkfest im Ebertpark geht in die Vollen (MM, S. 8)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.06.2012 um 22.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20872

Lieber Herr Riemer,

in diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die Vorschläge der Ersten Orthographischen Konferenz. Danach sollte "aufs geratewol" geschrieben werden. Der entsprechende Eintrag im Wörterverzeichnis verweist allerdings auf die Regel § 29 3, die an sich nur "Adjectiva und Adverbia" behandelt.

Interessanter noch ist die Regel § 29 2 Abs. 2: "Auch die Adjectiva in Verbindung mit etwas, nichts, alles, viel, manches sind klein zu schreiben; z. B. nichts gutes, viel schlechtes, etwas neues." Diese Regel ist mir sehr sympathisch; jedenfalls fühle ich mich in meiner Haltung nicht allein.

Allerdings befand sich die Konferenz zumindest mit "geratewol" wohl im Gegensatz zum damaligen Usus (auch abgesehen vom fehlenden Dehnungs-h).

Jedenfalls wurde Geratewohl offenbar ursprünglich als Substantiv verwandt und die Schreibung aufs Geratewohl hat sich seitdem durchgehend gehalten. Noch bei Adelung findet sich der Ausdruck "auf ein Geratewohl".

Auch Georg Simmel hat noch 1900 Geratewohl als Substantiv behandelt: "das blinde Geratewohl dieser Verhältnisse". Das ist allerdings vermutlich ein isolierter Fall.

In diesem Lichte halte ich die Kritik von Munske am Duden für zu harsch. Die Großschreibung in aufs Geratewohl ist bis heute die gängige Schreibung. Weder im Kern-Korpus noch im Zeitkorpus des DWDS findet sich Kleinschreibung in nennenswerter Anzahl.

In systematischer Hinsicht wäre der Duden ja vielleicht berechtigt gewesen, zur Kleinschreibung überzugehen. Er hätte sich damit aber in einen Gegensatz zum Usus gesetzt. Daß der alte Duden das nicht getan hat, ist ihm eigentlich hoch anzurechnen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.06.2012 um 23.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20873

Für das Substantiv Geratewohl spricht eigentlich auch die sehr ähnliche Bildung das Lebewohl.
(Ohne h schreibt man auch heute noch die Wollust. Vielleicht wurde das Wort wol bis vor nicht allzulanger Zeit noch kurz gesprochen?)

Sprache ändert sich, weshalb man ebenso wie mit dem Etymologisieren wohl auch mit dem Historisieren auf anderen Gebieten vorsichtig sein muß. Wer sich heute fragt, wie man die Wendung aufs G/geratewohl schreibt, kann die Wortart ja tatsächlich aus dem heutigen Gebrauch nicht mehr ableiten.

In ähnlicher Weise hat mich einmal gewundert, daß man zu guter Letzt schreiben soll. Kaum jemand kennt noch dieses alte Substantiv.

Sie, lieber Herr Achenbach, rechnen dem Duden den Verzicht auf solche Systematisierung an. Na ja, das stimmt schon auf eine Art, aber mir wäre es doch viel lieber gewesen, er hätte auf diese unsinnige vermehrte Großschreibung bei adverbialen Ausdrücken (aufs Neue usw.) verzichtet und statt dessen systematisch auch aufs geratewohl und zu guter letzt zugelassen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.06.2012 um 00.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20874

Lieber Herr Riemer,

meine Bemerkung zum Duden bezog sich ausdrücklich auf den alten Duden. Die Schreibungen aufs Neue und auf ein Neues sind ja erst durch die Reform eingeführt worden.

Zum Geratewohl ist vielleicht noch zu sagen, daß G/geratewohl jedenfalls kein Adjektiv (oder Adverb) ist. Die Beispiele bei Munske und der Ersten Orthographischen Konferenz handeln aber nur davon. Wenn man bezweifelt, daß G/geratewohl ein Substantiv sei, dann stellt sich doch fast noch mehr die Frage, warum es überhaupt zusammengeschrieben wird. Mir würde aufs gerate wohl vielleicht noch am besten gefallen. Jedenfalls enthielte es nur auch in der heutigen Sprache gängige Wörter. Dieser Tage stand im Bonner Generalanzeiger zum Fußballspiel der deutschen Mannschaft, daß einige tausend Leute "zum Fußball schauen" zusammengekommen seien, an anderer Stelle sogar "zum gemeinsamen Fußball schauen". Das widerspricht ja wohl alten wie neuen Regeln, aber die erste Variante schockiert keineswegs mein Sprachempfinden.

Daß die Wendung aufs Geratewohl überhaupt in die knappen Wörterlisten der Schulorthographien aufgenommen wurde (das früheste Beispiel finde ich in der württembergischen von 1861), zeigt immerhin, daß schon damals die Schreibung als problematisch empfunden wurde.

Der Fall zu guter Letzt ist wiederum anders gelagert. Die Verbindung mit einem flektierten Adjektiv macht die Einordnung von Letzt als Substantiv doch nahezu unausweichlich. Dennoch ist die Wendung in der neueren Sprache nicht mehr verständlich. Der Ausweg in solchen Fällen ist die Zusammenschreibung, und gerade bei Ausdrücken mit zu gibt es ja viele Zusammenschreibungen. Tatsächlich hat der Duden bis 1900 als Variante auch die Schreibung zuguterletzt aufgeführt. Diese ist allerdings in die Wörterliste der Zweiten Orthographischen Konferenz nicht aufgenommen worden.

Im DWDS-Kernkorpus gibt es für zuguterletzt 22 Fundstellen (bis spätestens1979), für zu guter letzt nur eine von 1905.

Auch die Wendung auf gut Glück ist heute nicht mehr recht durchschaubar, aber Glück scheint doch eindeutig ein Substantiv zu sein. Und wie ist es mit auf Wiedersehen? Warum nicht auf wiedersehen, wozu ich durchaus neigen würde?

In diesem Zusammenhang fällt mir auf, daß die Reform auch die Schreibung Auf Wiedersehen sagen zuläßt, was vom Duden sogar empfohlen wird. Warum dann nicht gleich Aufwiedersehen sagen, was mir konsequenter erschiene?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.06.2012 um 10.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20876

Auch in ein kleines bißchen haben wir eine Verbindung mit einem flektierten Adjektiv und schreiben trotzdem danach klein.

Man könnte aufs geratewohl, zu guter letzt, in bezug, ein kleines bißchen im Sinne Prof. Icklers als klein geschriebene Substantive deuten.
Oder wie Prof. Munske als besondere, unbestimmbare Ausnahmen, als regulär klein geschriebene Nichtsubstantive. Es gibt ja solche Ausnahmen: in eines Nachts scheint auch das Geschlecht falsch zu sein, trotzdem sagt man es nur so.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 18.06.2012 um 10.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20897

Im Schweigen den Weg zum Anderen finden (MM, 18.6.12, S. 25)

Diese Überschrift legt nahe, daß das Andere ein Abstraktum, eine Substantivierung wie das Schweigen ist. So versteht man den Artikel aber falsch, denn darin geht es einfach ums Miteinander, mit dem anderen ist der Partner gemeint! Im Text unter anderem:

Es geht nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander.
... Es muss miteinander gehen, nicht ohne einander.

Darin zeigt sich auch wieder einmal die Unsicherheit, die die RSR gebracht hat, sogar noch in der direkten Gegenüberstellung von mit- und ohneeinander, denn letzteres war von keiner der Reformen seit 1996 betroffen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 18.06.2012 um 23.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20898

Lieber Herr Riemer,

ich glaube nicht, daß die Getrenntschreibung ohne einander etwas mit der Unsicherheit durch die RSR zu tun hat. Auch vor der RSR ist häufig, nach meinem Eindruck sogar überwiegend ohne einander geschrieben worden (dabei meine ich natürlich nur das Adverb und nicht Schreibungen wie ohne einander zu sehen).

Ich glaube vielmehr, daß der Duden mit der strikten Vorschrift der Zusammenschreibung in diesen Fällen übers Ziel hinausgeschossen ist.

So gibt es von Martin Walser das Buch "Ohne einander" (1993).

In einer Beschreibung der Verfilmung (2007) des Romans heißt es:

"Ohne einander" nach dem gleichnamigen Roman von Martin Walser, erzählt die Geschichte einer Familie am Starnberger See, in der es kein "Miteinander" mehr gibt, die aber ohne einander auch nicht leben kann.

Im Wörterbuch von Prof. Ickler steht ohne_einander (mit Ickler-Bogen).
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.06.2012 um 00.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#20899

Danke für den Hinweis, lieber Herr Achenbach!
Mir war leider die ausführliche Diskussion über +einander hier vor fast 5 Jahren schon entfallen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2017 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#35627

Die Reformer haben sich um Substantivierung gekümmert, aber nicht um Desubstantivierung. Das ist auch etwas anspruchsvoller. Es gibt hier nichts, was der volksschulgerechten Artikelprobe entspräche. Daher die rückschrittliche vermehrte Großschreibung und der gewissermaßen kindliche Charakter der Rechtschreibreform.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.03.2020 um 06.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#43287

Noch einmal zu den Zahlwörtern:

Der Stadtkommandant Jerusalems, ein Ägypter, befehligte mehrere Tausend Mann. (Spiegel 30.1.17)

Wenn dies der unmarkierte Plural des Substantivs Tausend wäre (wie mehrere Faß Bier), dann müßte man entsprechend sagen: das Tausend Mann, das er befehligte. Möglich, aber nicht wahrscheinlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.05.2020 um 05.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#43549

In der längst zerstörten Stadt richteten sich die Verbliebenen auf das Schlimmste ein. An die Bomben war man gewöhnt... (FAS 3.5.20)

Hätten die Berliner sich nicht etwas besser einrichten können? Man sieht hier, wie sinnvoll die Unterscheidung war, bevor die Reform sie einebnete.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 21.08.2020 um 21.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#44161

„Wir werden nicht mehr nur für das Maske tragen werben, sondern die Maskenpflicht auch durchsetzen“, kündigte Erster Bürgermeister Christian Specht (CDU) an.
(MM, 22.8.2020, S. 9)

So schreibt eine Zeitung, die ansonsten glaubt, jedes daß in Leserbriefen in ein dass korrigieren zu müssen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.11.2020 um 06.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1180#44767

Und bei den Frauen schneidet nicht etwa ein ostdeutsches Bundesland am Schlechtesten ab, sondern das Saarland. (Tagesspiegel 21.11.18)
https://www.tagesspiegel.de/politik/europaweiter-vergleich-warum-haben-deutsche-so-eine-geringe-lebenserwartung/23665136.html

Es ist in der Tat nicht einzusehen, warum hier nicht Großschreibung eintreten soll, wie bei der übrigen Großschreibungswelle (aufs Schönste). (Letzteres wird nicht nur vom Duden, sondern auch von korrekturen.de empfohlen, ziemlich enttäuschend.)

Die Inkonsequenz, auf Unverständnis beruhend, hat hier eine besonders große Unsicherheit hinterlassen. Die Verantwortlichen (Gallmann u. a.) sind abgetaucht.
 
 

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